Stoffwechsel-optimierung statt (nur) Gewichtsreduktion

 

Laut Nationaler Verzehrstudie sind 50,6 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer übergewichtig, wobei mit zunehmendem Alter der Anteil übergewichtiger und adipöser Personen zunimmt. 1960 gab es in Deutschland etwa 800.000 Diabetiker, heute wird die Zahl mit acht Millionen angegeben, die Dunkelziffer von zwei bis vier Millionen Diabetikern nicht mitgerechnet. Die überwiegende Zahl sind Typ-2-Diabetiker, davon sind 90 Prozent übergewichtig. Aus der Nurses Health Study wissen wir, dass bereits bei einem BMI von 27 kg/m² das Diabetes-Risiko um das Zehnfache erhöht ist, ab einem BMI von 30 kg/m² steigt das Risiko exponentiell an.

 

Dabei kommt dem Bauchfett, vor allem dem intraabdominellen Fett, eine besondere Bedeutung zu. Für die Entwicklung dieser androgenen Adipositas (Apfelform) spielt neben einer gewissen genetischen Veranlagung eine gesteigerte Energiezufuhr bei gleichzeitigem Bewegungsmangel die entscheidende Rolle. Legte ein Deutscher vor etwa 80 Jahren noch zwölf Kilometer am Tag zurück, so ist es heute weniger als ein Kilometer. Zwar ist die Energiezufuhr heute auch geringer als vor 80 Jahren, dennoch übersteigt sie in den meisten  Fällen den Energieverbrauch deutlich. Eine stammbetonte Adipositas ist die Folge und mit ihr entwickelt sich eine Insulinresistenz. Um den Blutzuckerspiegel konstant zu halten, müssen die Betazellen der Bauchspeicheldrüse mehr Insulin produzieren, was wiederum zu einer Downregulation der Insulinrezeptoren in den insulinsensitiven Organen Leber und Muskel führt. Hierdurch wird der Hyperinsulinismus weiter verstärkt und die „Insulinfalle“ schnappt zu.

 

Wird nicht durch Gewichtsreduktion und Bewegung gegengesteuert, kann die Bauchspeicheldrüse im Laufe der Jahre durch vermehrte Insulinproduktion den Blutzucker nicht mehr im Normbereich halten und es entwickelt sich, neben Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck,  ein Typ-2-Diabetes mellitus.


Insbesondere insulinotrope Medikamente verstärken noch den Hyperinsulinismus und führen zur Gewichtszunahme. Eine frühzeitige Insulintherapie schont zwar die Betazellen, führt aber gleichzeitig zur „Insulinmast“. Diabetes Studien der letzten Jahre (ACCORD) waren ernüchternd: Es konnte mit massiver medikamentöser Therapie das HbA1c gesenkt werden, die Sterblichkeit dagegen nahm zu. Ein Umdenken in der Diabetestherapie ist dringend notwendig. Bereits die UKPDS-Studie zeigte, dass alleine durch eine Gewichtsreduktion das HbA1c um ein bis drei Prozent gesenkt werden  konnte. Die Leitlinien der Fachgesellschaften definieren diese Lebensstiländerungen wie folgt: Ernährungsumstellung, bei Bedarf Gewichtsreduktion, Schulung und Bewegung.

 

Bei der Bewegung hat in den letzten Jahren das Krafttraining an Bedeutung gewonnen, zumal sich viele Übergewichtige aufgrund der bestehenden Sekundärkomplikationen nicht ausdauernd bewegen können. Mit Krafttraining werden Muskeln aufgebaut, Gelenke stabilisiert und gleichzeitig die Fettverbrennung (findet im Muskel statt) ermöglicht. Die hieraus resultierende Gewichtsreduktion erleichtert dann auch die Bewegung im Ausdauerbereich. Wenn durch Bewegung (Kraftausdauertraining) die Insulinresistenz gemindert oder durchbrochen wird, wird Fettverbrennung erst möglich und die Gewichtsreduktion effektiver und nachhaltiger. Die Diskussion um glykämischen Index oder glykämische Last ist müßig, letztendlich muss die absolute zugeführte Kohlenhydratmenge  reduziert werden. Kohlenhydrate sind wichtig für Menschen, welche schwer körperlich arbeiten oder sich viel bewegen, entsprechend müssen Kohlenhydrate reduziert werden, wenn Bewegungsmangel mit Wegstrecken unter einem Kilometer pro Tag die Regel sind.

 

Der Eiweißbedarf dagegen wird schon immer absolut in Relation zum Körpergewicht angegeben (1 bis 1,2 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht). Daher muss bei Kalorienrestriktion der relative Eiweißanteil entsprechend erhöht werden (20 bis 30 Prozent der zugeführten Energie), um nicht eine Eiweißmangelernährung mit Muskelabbau etc. zu riskieren. Eine Reduktion der Kohlenhydrate im Austausch gegen Eiweiß führt über die vermehrte Sättigung durch Eiweiß und Erhöhung der Thermogenese auch zu einer deutlichen und nachhaltigen Gewichtsreduktion.

Gerade bei Typ 2 Diabetikern haben sich meal replacement Programme wie das Bodymed-Ernährungskonzept bewährt (Why WAIT Studie). Dabei werden initial zwei Mahlzeiten durch eiweißreiche Shakes ersetzt, eine Hauptmahlzeit wird entsprechend den Ernährungsempfehlungen aus dem Konsensuspapier 2008 (Pudel, Walle, Worm) als moderat kohlenhydratreduzierte und eiweißoptimierte Mischkost zubereitet. Eine Langzeitstudie mit 2.467 Teilnehmern über 2 Jahre (LEAN I Studie) belegt eindrücklich den Erfolg eines Meal-replacement-Programms, welches die Erfolgskriterien für alle ambulanten Ernährungskonzepte weit übertrifft: 78,8 Prozent der Teilnehmer reduzierten mehr als 5 Prozent des Ausgangsgewichts (gefordert sind mindestens 50 Prozent), 63,6 Prozent schafften sogar mehr als 10 Prozent Gewichtsreduktion (gefordert sind 20 Prozent). Damit sind Meal-Replacement Programme im Vergleich zu klassichen Ernährungskonzepten überlegen, was die obengenannten Erfolgskriterien angeht, auch die absolute Gewichtsabnahme von 11,6 Kilogramm ist deutlich mehr, als das, was man von den publizierten Daten der kohlenhydratbetonten, fettarmen Gewichtsreduktionsprogramme (im Mittel zwei bis fünf Kilogramm) kennt. Aus diesem Grund werden solche Programme in Stufe 3 der Leitlinien zur Diagnose und Therapie der Adipositas empfohlen (www.awmf-leitlinien.de).

 

Die aktuelle Literatur bestätigt diesen Trend zur moderaten Kohlenhydratreduktion im Austausch mit Eiweiß. Die erwähnte Why WAIT-Studie des Joslin-Diabetes-Centers in Harvard zeigte ebenfalls mit einem Meal Replacement Programm und einer Kohlenhydratrestriktion auf etwa 40 Prozent der zugeführten Kalorien bei gleichzeitiger Erhöhung der Eiweißzufuhr auf 30 Energieprozent eine deutliche Verbesserung des HbA1c und bei gleichzeitiger Kosteneinsparung von mehr als 400 Dollar. Die von Joslin propagierte Nährstoffrelation mit einer Begrenzung der Kohlenhydrate auf etwa 40 Energieprozent, Erhöhung der Eiweißzufuhr auf 20 bis 30 Energieprozent sowie eine Modifikation der Fettzufuhr auf 30 bis 35 Energieprozent entspricht im Wesentlichen der  im Konsensuspapier Ernährung 2008 publizierten Nährstoffrelation (Eiweiß 20 bis 30 Energieprozent, Fett 30 bis 40 Energieprozent, Kohlenhydrate 30 bis 40 Energieprozent). Aufgrund der aktuellen Datenlage stufte die Amerikanische Diabetes-Gesellschaft (ADA) bereits im Januar 2008 eine moderat kohlenhydratreduzierte Kost zumindest als gleichwertig zu den bisherigen Empfehlungen bei Diabetikern ein. Eine auf dem DDG/DAG-Kongress im November 2009 vorgestellte Studie, bei der  die Kohlenhydrate im Austausch gegen Eiweiß reduziert wurden, bestätigte die positiven Effekte gerade bei Diabetikern. Bei Reduktion der diabetesspezifischen Medikation um 23 Prozent konnte gleichzeitig der HbA1c signifikant von 7,3 auf 6,7 Prozent reduziert werden. Parallel dazu besserten sich alle relevanten Stoffwechselparameter wie auch der Blutdruck.

 

Das aktuelle Positionspapier „Ernährung bei Diabetes“ (Walle, Becker, Liebermeister Mehnert; Journal of Pharmacology and Therapy, 2010) fasst die aktuelle Datenlage zusammen und gibt dem interessierten Arzt in Klinik und Praxis konkrete Handlungsanweisungen für eine begleitende Ernährungstherapie bei Übergewicht, Adipositas und Diabetes mellitus.